Der Ursprung des Neuen Testaments

Kritiker des Neuen Testaments behaupten, insbesondere die Evangelien wurden viele Jahrzehnte nach den Ereignissen von anonymen Autoren verfasst. Christen behaupten, das Neue Testament wurde von Augenzeugen geschrieben, sowie von Autoren, die es unmittelbar von den Augenzeugen gehört haben. Doch wie ist die Faktenlage über den Ursprung des Neuen Testaments?

Das entscheidende Ereignis ist die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels durch den römischen Feldherrn und späteren Kaiser Titus im Jahr 70 n.Chr.

Dieses Ereignis wird in der Bibel vorhergesagt, zum Beispiel im Markus 13:1-2:

Und als er aus dem Tempel hinausgeht, sagt einer seiner Jünger zu ihm: Meister, schau, was für Steine und was für Bauten! Und Jesus sagte zu ihm: Siehst du diese grossen Bauten? Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben, jeder wird herausgebrochen.

Und genau das ist im Jahr 70 passiert. Die Römer haben keinen Stein stehen gelassen. Nach der Zerstörung haben sie alle Steine des Tempels auf die Straße hinabgestoßen. Die herodianische Straße unterhalb der Westmauer zeugt bis heute von den Steinen, die dort heruntergefallen sind.

Zerstörung des Tempels Jerusalem

Widersprüchliche Datierung der Evangelien mit historisch-kritischen Methoden

Ich habe mir dutzende von Datierungen der Evangelien durchgelesen. Alle bibelkritischen Forscher, die die Evangelien auf später als 70 n.Chr. datieren, stützen sich dabei auf die Zerstörung des Tempels. Weil das Ereignis in den Evangelien beschrieben ist, müssen diese nach dem Ereignis verfasst worden sein. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Apostel bereits tot. Also waren die Autoren der Evangelien nicht die Apostel, sondern anonyme Autoren. Andere Grundlagen für eine späte Datierung habe ich nicht finden können. Falls es doch welche geben sollte, dann spielen sie in der Bibelforschung keine größere Rolle.

Die Datierung funktioniert aber nur, wenn man davon ausgeht, dass Jesus die Zerstörung des Tempels niemals vorausgesagt hat. Spätere Autoren hätten ihm also die Worte in den Mund gelegt. Die bibelkritischen Forscher gehen also voreingenommen an die Datierung heran, und schließen das Übernatürliche, und damit Prophetie von vornherein aus.

Insbesondere ist es unzulässig, die Spätdatierung der Evangelien herzunehmen, und daraus den Schluss zu ziehen, dass Jesus keine übernatürlichen Wundertaten vollbracht hat. Dies ist eine Annahme, die bereits in die Datierung eingeflossen ist. Sie daraus schlussfolgern zu wollen ist absurd, und wieder einmal ein typischer Zirkelschluss.

Datierungen mit grammatisch-historischen Methoden

Die Zerstörung des Tempels wird im Neuen Testament ausschließlich prophetisch beschrieben, nicht als bereits geschehenes historisches Ereignis. Im Gegenteil, Jerusalem und der Tempel werden durchgängig so beschrieben, als ob es real existierende Stätten sind, und keine Ruinen, die von den Römern zersört wurden. Das deutet darauf hin, dass der Großteil des Neuen Testaments vor dem Jahr 70 verfasst wurde, wenn nicht sogar alles.

Die Reihenfolge, in der die Evangelien verfasst wurden, ist relativ unumstritten. Markus schrieb zuerst, dann entweder Lukas oder Matthäus. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass Lukas vor Matthäus schrieb. Als letztes schrieb Johannes sein Evangelium. Die früheren Evangelien lagen den späteren Evangelisten teilweise vor. Lukas schrieb außerdem einen zweiten Teil, die Apostelgeschichte.

Datierung der Apostelgeschichte

Die Apostelgeschichte ist ein designiertes Geschichtswerk. Damit lässt sie sich besser datieren als die Evangelien. Sie beschreibt die früheste Kirchengeschichte, ungefähr von 33 bis 62 n.Chr. Die Zerstörung des Tempels war für alle Christen und Juden im Heiligen Land das einschneidendste Ereignis für viele Genrationen. Trotzdem wird es in der Apostelgeschichte nicht erwähnt.

Ein Buch über die moderne Geschichte der USA, welches kein Wort über die Anschläge vom 11. September enthält, dürfte in jedem Fall vor dem Jahr 2001 geschrieben worden sein. Ein Buch über die moderne Stadtgeschichte von Köln, das nichts über den Einsturz des Stadtarchivs enthält, ist sicherlich von vor 2009. Aus diesem Grund ist die Apostelgeschichte sicherlich auch nicht später als im Jahr 70 verfasst.

Die Apostelgeschichte beschreibt den Tod des Märtyrers Stephanus, nicht aber den Märtyrertod anderer Apostel. Sie erwähnt nicht einmal die Hinrichtungen der Hauptcharaktere Petrus und Paulus. Auch das ist Grund zur Annahme, dass das Buch früher verfasst wurde. Petrus wurde spätestens im Jahr 67 hingerichtet. Paulus wurde um das Jahr 66 getötet, Jakobus sogar schon im Jahr 62. Das ist ungefähr das gleiche Jahr, in dem die Ereignisse enden, die in der Apostelgeschichte beschrieben werden. Das passt damit zusammen, dass die letzten Kapitel der Apostelgeschichte sehr lebendig geschrieben sind, wie frisch aus dem Gedächtnis.

Kulturelle und geografische Aspekte bei der Datierung

Die Römer werden generell als neutrale Besatzungs- und Weltmacht dargestellt. Nachdem Ende der 60er Jahre im ganzen Reich Hass und Verfolgung gegen Juden und Christen aufkamen, hätte ein späterer Autor die Römer nicht so positiv davonkommen lassen.

Das sind noch nicht alle Indizien für eine frühe Entstehung des Buches. Eigentlich gibt es so viele, dass sie den Rahmen des Beitrages bei weitem sprengen würden. Die geographischen und kulturellen Details sind in den kleinsten Einzelheiten korrekt, zwischen Jerusalem und Rom, für alle erwähnten Städte, Provinzen, Inseln, Flüsse, Straßen, Tempel, Sprachen, teilweise Slang-Wörter aus den Sprachen, die nur in den jeweiligen Städten gebraucht wurden, bis hin zu den korrekten Titeln der lokalen Gouverneure in den Städten und Provinzen. Die Anzeichen, dass die Apostelgeschichte von Anfang bis Ende von einem Augenzeugen der Ereignisse geschrieben wurde sind überwältigend.

Datierung des Lukas-Evangeliums

Da die Apostelgeschichte der zweite Teil ist, haben wir auch gleich eine Datierung für den ersten Teil, das Lukas-Evangelium. Das kann nicht später als der zweite Teil geschrieben worden sein. Diese Obergrenze lässt sich noch verbessern.

Der 1. Korintherbrief ist auf das Jahr 55 datiert. Dieses Datum ist unzweifelhaft, und wird auch von skeptischen Forschern und Bibelkritikern akzeptiert. Nun aber zitiert Paulus im 1. Korinther 25:23-25 aus Lukas 22:19-20.

Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und gab es ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis. Und ebenso nahm er den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das vergossen wird für euch. (Lukas 22:19-20)

Ich habe nämlich vom Herrn empfangen, was ich auch an euch weitergegeben habe: Der Herr, Jesus, nahm in der Nacht, da er ausgeliefert wurde, Brot, dankte, brach es und sprach: Dies ist mein Leib für euch. Das tut zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Essen den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. (1. Korinther 25:23-25)

Damit haben wir als neue Obergrenze das Jahr 55. Paulus konnte nur aus einem Buch zitieren, das schon existiert hat.

Datierung des Markus-Evangeliums

Wie schaut es bei Markus aus? In diesem Evangelium fällt auf, dass es den Hohepriester, der an der Kreuzigung beteiligt ist, nicht namentlich nennt. Alle anderen Evangelien benennen den Hohepriester mit Namen Kajafas. Außerdem benennt Markus andere Beteiligte wie Pilatus mit Namen. Kajafas war bis ins Jahr 36 im Amt. Könnte es also sein, dass das Markus-Evangelium vor dem Jahr 36 verfasst wurde, also 3 Jahre nach der Kreuzigung? Möglich ist es, aber es ist auch eine andere Erklärung denkbar. Auch nach seiner Amtszeit war Kajafas ein mächtiger Mann. Erst im Jahr 42 verlor seine Familie an Macht. Ab dann konnte man seinen Namen im Zusammenhang mit der Kreuzigung verwenden, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Daher ist das Markus-Evangelium vermutlich vor dem Jahr 42 entstanden, also nicht später als 9 Jahre nach der Kreuzigung.

Datierung des Johannes-Evangeliums

Schauen wir noch kurz in das Johannes-Evangelium. Für viele Details gibt es Bestätigungen aus anderen Quellen und aus der Archäologie. Die Bibelstelle in Johannes 5:2 sticht besonders hervor.

In Jerusalem beim Schaftor ist ein Teich mit fünf Hallen, der auf hebräisch Betesda heisst.

Bei Ausgrabungen im Jahr 1914 hat man den Teich gefunden. Er befindet sich beim Schaftor, und besteht aus fünf Hallen. Johannes schreibt außerdem, dass der Teich in Jerusalem ist, und nicht nach der Zerstörung Jerusalems dort war. Ein angeblicher anonymer Autor des Johannes-Evangeliums, der es im 2. Jahrhundert in der heutigen Türkei verfasst hat, wie die Bibelkritiker es behaupten, hätte dieses und ähnliche Details nicht wissen können. Daher ist als Obergrenze für die Entstehung des Johannes-Evangeliums das Jahr 70 anzusetzen.

Datierung an Hand von Namenshäufigkeiten

Richard Bauckham hat die Namen der Individuen aus den Evangelien und der Apostelgeschichte statistisch erfasst, und sie mit der Häufigkeit der Namen aus anderen Quellen zu der Zeit verglichen, also von Grabsteinen, aus der Literatur usw.

Er hat die kompletten Statistiken veröffentlicht, also ich picke hier keine Rosinen. Die beliebtesten beiden Namen stimmen sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen überein. Bei den Männern sind es Simon und Josef, und bei den Frauen Maria und Salome. Auch die Häufigkeit stimmt jeweils in etwa überein.

Die Häufigkeit der jeweils insgesamt 9 beliebtesten Namen stimmt ebenso in etwa überein. So etwas lässt sich nicht fälschen. Bauckham hat jüdische Namen in Ägypten separat erfasst. Die Namenshäufigkeiten in Ägypten sind jeweils komplett anders. Wenn jemand die Evangelien zu einer späteren Zeit oder an einem anderen Ort erfunden hätte, könnte solch eine Statistik nicht zustande kommen.

Ein Faktencheck aus dem 2. Jahrhundert

Den ersten Faktencheck hat Bischof Papias Anfang des 2. Jahrhunderts gemacht. Leider sind seine Schriften nur noch fragmentweise erhalten. Papias war ein Jünger des Johannes. In seinen Schriften zitiert er, was er von Johannes über die Ursprünge der Evangelien erfahren hat.

Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.

Was lernen wir daraus? Markus hat das Zeugnis von Petrus niedergeschrieben, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge. Das ist nicht weiter verwunderlich. Jesus hat bestimmt nicht, wie im Markus-Evangelium, alle Gleichnisse hintereinander erzählt, dann separat davon alle Wunder hintereinander vollbracht, dann alle Heilungen usw. Das Markus-Evangelium ist thematisch angeordnet, nicht chronologisch.

Matthäus hat in hebräischer Sprache die Reden zusammengestellt; ein jeder aber übersetzte dieselben so gut er konnte.

Dies ist schon etwas herausfordernder, weil das Matthäus-Evangelium auf Griechisch überliefert ist, und nicht auf Hebräisch. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Matthäus entweder selbst eine griechische Übersetzung angefertigt hat oder das später von jemand anders gemacht wurde. Das wichtigste Ergebnis des Faktenchecks des Papias war, dass Matthäus als Verfasser des Evangeliums bestätigt wurde, auch wenn das hebräische Original wohl verloren ist.

Zusammenfassung

Soviel zum Ursprung der Evangelien und der Apostelgeschichte. Zusammenfassend haben wir gesehen, dass es für die Spätdatierung nur ein einziges Argument gibt, und dazu noch ein ziemlich schlechtes, und für die frühe Datierung eine ganze Fülle von Argumenten. Die Argumente, deren Oberfläche ich nur ein wenig angekratzt habe, bekommen in Zukunft sicherlich eigene Beiträge.

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